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Einige Anmerkungen aus dem
Schulalltag in Hahausen
nach dem Zweiten Weltkrieg
von Arnold Jahns
Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, wollte man alle
Widerwärtigkeiten im Schulleben der Schule Hahausen aufzählen, die sich
nach dem totalen Zusammenbruch Deutschlands 1945 und als Folge der
gewaltsamen Abtrennung großer Teile des Reiches im Osten ergaben. Es
sollen nur einige Missstände vermerkt werden: Überfüllte Klassen, keine
Schulbücher (die bisherigen waren von den Alliierten verboten), keine
Schreibhefte, weder Tinte noch Bleistifte, keine Tafelkreide; die meisten
Kinder waren schlecht oder unterernährt. Durch wochenlange Flucht, beim
Lagerleben in engen Barackenlagern und späteren zu engen Wohnräumen, mit
nur behelfsmäßigen Waschgelegenheiten und dürftiger Bekleidung, konnte
es nicht ausbleiben, dass Kleider- und Kopfläuse, Flöhe und Wanzen sich
rasch vermehrten. Diese trugen dazu bei, dass Hautkrankheiten (Krätze)
und Tuberkulose sich ausbreiteten.
Die Zuteilung an Lebensmitteln war nicht ausreichend. Viele Kinder
brachten als Pausenfrühstück nur eine kalte Pellkartoffel zur Schule
mit, da ihre Mütter von der knappen Zuteilung kein Schulbrot abzweigen
konnten. Und doch war es auch eine besinnliche Zeit, die uns allen,
Schülern und Lehrern, viel geschenkt hat. Es gab ja so viele
Gemeinsamkeiten! Wir waren aber auch alle bestrebt, uns nicht durch Not
und Bedrängnis unterkriegen zu lassen. Was haben die Schulkinder bei
ihren Wirtsleuten und bei den Nachbarn noch alles an Lesestoffen
auftreiben können! Alte Buch-, Wand- und Abreiß;kalender, alte Zeitungen
und Zeitschriften, Bibeln, Katechismen und Gesangbücher wurden in die
Schule gebracht und dienten als Lesestoff. Für den Schreibunterricht
wurden alte Schiefertafeln aufgetrieben. Väter fertigten Holztäfelchen
an, auf denen mit Holzkohlestiften erste Buchstaben gemalt wurden. Wir
sammelten nachmittags mit den Schulkindern Altpapier und bekamen Anfang
März 1946 über das Schulamt Gandersheim für jedes Schulkind ein
Schulheft bewilligt. Da in der Gemeinde nicht genug Federhalter und
Bleistifte aufzutreiben waren, schrieben die- Kinder abwechselnd mit dem
gleichen Schreibzeug.
Es darf aber auch die große Hilfsbereitschaft der Kinder untereinander
nicht vergessen werden. Wir Lehrer beobachteten oft, dass Bauernkinder
ihren Mitschülern einen Teil ihres Frühstücksbrotes abgaben, einen
Apfel schenkten oder einfach von ihrem Schulbrot einige Happen abbeißen
ließen . . . Wir freuten uns gemeinsam mit den Kindern, die eine
Nachricht von ihren Vätern aus Kriegsgefangenenlagern erhielten oder gar
unerwartet heimgekehrt waren. Wir trauerten mit denen, die über das DRK,
den Suchdienst oder von Heimkehrern den Tod ihres Vaters erfuhren.
Es erscheint heute wie ein Wunder, wie damals die Kinder in den Jahren
1945 bis 1948 unter solchen unzulänglichen Verhältnissen überhaupt noch
eine Grundlage für ihre spätere Berufsausbildung mitbekommen haben. Laut
Meldung der Schule Hahausen am 6. 5. 1947 an das Schulamt in Bad
Chronik, Seite 156
Gandersheim wurden 206 Schüler in 2 Klassenräumen und
einem Wohnzimmer von 3 Lehrkräften unterrichtet, und zwar
Frl.
Hellvoigt die
Jahrgänge l und 2 = 86 Schulkinder,
Lehrer
W. Schiemenz die Jahrgänge 3 und 4 = 65 Schulkinder,
Hauptleher
A. Jahns die Jahrgänge 5, 6 und 7=55 Schulkinder.
(Durch Rückversetzung der Schulkinder 1946 war die 7. Klasse Entlassklasse).
Um die allgemeine Not zu lindern, waren die Schulen aufgerufen, bei der
Schädlingsbekämpfung zu helfen, Heilkräuter für die Herstellung von
Medikamenten und Wildfrüchte für die Zubereitung von Marmelade an
Nachmittagen, unter Aufsicht der Lehrer, zu sammeln.
Gegen Ende des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren hatten sich die
Kartoffelkäfer so vermehrt, dass sie durch Fraß; des Kartoffelkrautes die
Entwicklung der Stauden verhinderten und die Erträge verminderten oder
ganze Kartoffelfelder vernichteten. Die Lehrer gingen mit den Schulkindern
ab 3. Klasse regelmäß;ig an bestimmten Nachmittagen mit anderen Bewohnern
unter fachmännischer Anleitung der Bauern auf die Kartoffeläcker und
sammelten in Flaschen Unmengen von Kartoffelkäfern und deren Larven von
den zerfressenen Kartoffelstauden und brachten die vollen Gefäße zur
Sammelstelle, wo sie vernichtet wurden. Die Kinder empfanden das Suchen
nicht als Last, da sie an solchen Nachmittagen keine Hausaufgaben zu
erledigen hatten. Vom zeitigen Frühjahr bis in den Spätherbst hinein
sammelten die Kinder unter Leitung ihrer Lehrer, wiederum an freien
Nachmittagen, Heilkräuter und Waldfrüchte gegen eine geringe Entlohnung.
Die Heilkräuter wurden zu Herrn Gedig in das alte Schützenhaus gebracht
und die Wildfrüchte bei einer Sammelstelle in Neuekrug abgegeben. Die
Kinder machten es gern, weil sie das Sammeln nicht als Arbeit, sondern als
Zeitvertreib und geselliges Beisammensein mit den anderen Schulkameraden
betrachteten.
Die Schule Hahausen lieferte 1947 20 Säcke voll getrocknete Heilkräuter
und 1948 zum letzten mal 374,5 kg ab, die von der Sammelstelle an eine
Pharmazeutische Fabrik in Braunschweig weitergeleitet wurden. Es wurden
gesammelt: Himmelschlüssel, Fingerhut, Pfefferminze, Tollkirsche, Wermut,
Löwenzahn, Schafgarbe, Huflattich, Brennesseln, Ackerschachtelhalm u. a.
m. An Waldfrüchten sammelten die Schulkinder Hagebutten, Holunderbeeren,
Vogelbeeren (Ebereschen), Himbeeren und Brombeeren und lieferten sie in
der Sammelstelle in Neuekrug ab, von wo sie von einer Marmeladenfabrik in
Seesen abgeholt wurden.
Die katastrophale Ernährungslage wirkte sich gerade bei den Schulkindern
sehr schädlich aus, da sie als nicht arbeitende Schicht von der
Militärregierung die geringste Lebensmittelzuteilung erhielt. Um die
gröbsten Schäden zu vermeiden, suchten die eingesetzten deutschen
Verwaltungen Zusatzzuteilungen für schlecht ernährte Kinder zu
erreichen. Eine amtsärztliche Untersuchung der Schulkinder in Hahausen am
17. 5. 1946 brachte folgendes Ergebnis: Von 171 Kindern war
l Kind gut,
92
Kinder mittelmäßig und
78
Kinder schlecht ernährt.
Chronik, Seite 157
Letztere bekamen ab 1. 7. 1946 täglich ein
Viertel Liter Vollmilch bewilligt. Vom 10. 8. 1947 bis zur Währungsreform
im Juni 1948 wurde an der Schule Hahausen eine Schulspeisung für 80
schlecht ernährte Kinder durchgeführt. Die Nahrungsmittel für die
Schulspeisung lieferte eine Quäker-Gemeinschaft. Das fertige Essen wurde
mit dem Milchfahrzeug in Kanistern aus der Molkerei in Seesen auf den
Schulhof gebracht. Mütter von Schulkindern verteilten in der großen
Pause freiwillig das schmackhafte Essen an die ausgesuchten Kinder. Um den
Kindern und deren Eltern, die aus den Vertreibungsgebieten kamen, und auch
denen, die aus den zerbombten Städten evakuiert worden waren, das
Eingewöhnen und somit die Eingliederung zu erleichtern, bemühten sich
die Lehrer, mit Unterstützung vieler Eltern, durch allgemeine
Schulveranstaltungen zu fördern.
Bereits im Sommer 1946 wurde ein großes Schulfest auf dem Sportplatz mit
Sport, Spiel und Volkstänzen durchgeführt. Ein Vorweihnachtsfest mit
Weihnachtsmärchen und Liedern folgte noch im gleichen Jahr. In den
folgenden Jahren wurden regelmäßig Weihnachtsfeiern, Theaterabende in
den Wintermonaten, Balladenabende und Singabende in den Schulräumen,
Kasperletheater mit selbst gefertigten Puppen auf Elternabenden und
Sommerfeste auf dem Sportplatz veranstaltet. Die Lehrer waren dabei
bestrebt, alle Schulkinder bei Spiel, Tanz oder Gesang zu beteiligen.
Höhepunkt waren die Veranstaltungen anlässlich der 325. Wiederkehr der
Schlacht bei Lutter am Barenberge 1626. Am 16. 6.1951 wurde unter der
Regie von Lehrer Gustav Vellmer von Erwachsenen „Der Mönch von
Ringelheim" aufgeführt, von Herrn Vellmer nach dem gleichnamigen
Roman von E. M. Sulf dramatisiert. Am 26. 8. 1951 fanden
Großveranstaltungen aus gleichem Anlass statt. Nachmittags veranstaltete
die Schule einen großen Umzug durch das Dorf mit 10 historischen Bildern
auf Pferdefahrzeugen aus der Geschichte von Hahausen, anschließend wurde
ein umfangreiches Programm auf dem Sportplatz abgewickelt. Den Abend
verbrachten viele Teilnehmer bei fröhlichem Tanz in der Gastwirtschaft
Preuß.
Bedingt durch unzulängliche Unterrichtsräume und überfüllte Klassen,
wurde der Schulunterricht bei günstigem Wetter nach draußen verlegt.
Singstunden im Schulgarten oder Zeichnen in den Osterköpfen waren keine
Seltenheit. Heimatkunde wurde vorwiegend im Dorf, in Handwerksbetrieben,
in der Feldmark oder auf Unterrichtsgängen in die Nachbarorte erarbeitet.
Für den Erdkundeunterricht bot die Landschaft um Hahausen mit Bergen und
Hügeln, Wäldern und Feldern, Bächen und Teichen die beste Anschauung
für das Grundwissen im Unterricht. Und Themenbereiche aus dem
Geschichtsunterricht konnten auf dem Friedhof (Geschlechterfolge), vor dem
Ehrenmal (die beiden Weltkriege), auf dem Schreckensberg und in der Ebene
von Hahausen - Nauen - Lutter (der 30jährige Krieg), am Herzbrunnen bei
Ödishausen und den Steingräbern am Hillenkopf (Frühgeschichte)
anschaulich behandelt werden.
Fast unerschöpflich war das Angebot an Pflanzen in den umliegenden
Wäldern, auf den Ackern und Wiesen, an den Teichen und Bächen. Eine
wahre Fundgrube waren die Osterköpfe. Der Bergzug aus Muschelkalk bot
eine Fülle von Pflanzenarten, wie sie nur selten zu finden sind. Neben
dem
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üppigen Wuchs der bekannten Busch- und Baumarten fand
man im zeitigen Frühjahr unzählige blühende Seidelbastbüsche.
Leberblümchen, weißer und blauer Lärchensporn und Waldmeister bedeckten
große Flächen des Waldbodens. Buschwindröschen wucherten in kaum
bekanntem Ausmaß an den Hängen. Und schon von weitem spürte man den
herben Geruch des Bärenlauchs. Aaronstab, Akelei, Salomonsiegel,
Maiglöckchen, die Schattenblume und Himmelschlüssel waren weit
verbreitet. Und wenn man emsig suchte, stieß man auf die seltene
Weißwurz oder gar auf die fleischfarbene Ragwurz. Auch der Blaue Enzian
war hier beheimatet. Und im verborgenen sind noch mehrere Arten von
Knabenkräutern, der Türkenbund, die Spinnen- und Fliegenorchis und der
Frauenschuh zu finden.
An den Waldrändern bildeten viele Arten von Büschen den Schutzschirm, um
den Waldboden vor kalten und trockenen Winden zu schützen. Im dichten
Gestrüpp von Hartriegel, Haselnussstrauch, Heckenkirsche, Heckenrose,
Holunder, Weiß- und Schwarzdorn, Eberesche, Pfaffenhütchen und wolligem
Schneeball nisteten viele Vogelarten.
Vom Schulhof konnten die Schüler den Vogelzug beobachten, wenn sie in
Formationen schreiend über Hahausen hinweg zogen. Nie überquerten sie
direkt den Langenberg nach Süden, sondern wählten nach mehrmaligem
Kreisen die Senke zwischen Langenberg und den Osterköpfen nach Rhüden.
Dank einer guten Zusammenarbeit im Lehrerkollegium und gemeinsamer
Erarbeitung der Unterrichtspläne und der Wanderpläne, lernten die
Schulkinder mit jedem Schuljahr ein weiteres Stück unseres Landes kennen.
Jeder Schüler konnte mit seinem Jahrgang einige Wanderungen und Fahrten
mitmachen. Die ersten und zweiten Schuljahre dehnten ihre Tageswanderungen
aus der näheren Umgebung bis auf die Lageswarte, in die Braune Heide, zu
den Bodensteiner Klippen und bis zur Winkelsmühle bei Seesen aus. Die
dritten und vierten Klassen unternahmen Bahn- und Busfahrten in die
Kreisstadt Bad Gandersheim, zur Burg Greene, zur Rhumequelle, auf den
Burgberg bei Bad Harzburg und besuchten die Bergwerkstädte Bad Grund und
Clausthal-Zellerfeld und die Zonengrenze bei Helmstedt und im Harz.
Die fünften und sechsten Klassen besuchten die Nachbarstädte Goslar,
Hildesheim und Duderstadt und lernten auf ihren Harzfahrten die Bedeutung
der Talsperren für die Trinkwasserversorgung für viele Städte und
Gemeinden kennen und auch als Wasserschutzmaßnahme gegen
Überschwemmungen bei der Schneeschmelze und nach Wolkenbrüchen
schätzen, wie sie vormals weite Landstriche jährlich überfluteten und
Menschen in Gefahr brachten und große Teile der Saaten und Ernten
vernichteten. Sie unternahmen Wanderfahrten u. a. vom 13. - 15. 8. 1951 in
die Heide und ein Jahr später nach Hedeminden, wo sie in Zelten
übernachteten.
Die Schulkinder der 7. und 8. Klassen suchten auf Tagesfahrten die
Landeshauptstadt Hannover und die Städte Braunschweig, Hameln,
Hildesheim, Goslar und Wolfenbüttel auf, stiegen in die Tropfsteinhöhle
bei Bad Grund und in die Einhornhöhle bei Scharzfeld ein und besichtigten
die „Steinkirche" bei Scherzfeld. Sie standen vor der verminten und
mit Stacheldraht und Beton-
Chronik, Seite 159
wänden errichteten Zonengrenze und erlebten so die
grausame Grenze des geteilten Deutschlands.
Aufweiten Fahrten mit dem Omnibus, z. B. nach Hamburg, an den Wilseder
Berg oder nach Walsrode, machten sie Rast in Celle und besuchten Schloss
und Museum; in Lüneburg besichtigten sie die Altstadt und sahen die Risse
in den Wänden der alten Häuser, die über den abgebauten Salzstöcken
langsam sich senken und bewunderten das Rathaus und die alten Bauten am
Marktplatz. Hier sollen auch einige Beispiele von Heimaufenthalten genannt
werden. August 1950: Eine Woche Aufenthalt bei Familien in
Privatquartieren in Hermannsburg. Sternwanderungen nach Bergen Belsen, zum
Hermann-Löns-Stein, an die Sieben Steingräber u. a. 1951: Drei Tage JH-
Hamburg - Harburg. 1954: Drei Tage JH - Hamburg.
1963: Drei Tage JH- Winsen a. d. Luhe. Besuch der Internationalen
Gartenbau-Ausstellung m Hamburg. 1960: Drei Tage JH-Hösseringen.
1952 und 1961: Je eine Woche Aufenthalt in Steinhude - Zeltlager. 1959:
Drei Tage in der JH auf dem Ludwigstein bei Witzenhausen. Es waren noch
weitere Wanderziele eingeplant und wurden auch durchgeführt. Natürlich
nahm ein Schüler nicht an jeder aufgezählten Wanderfahrt teil, sondern
nur an den zulässigen in einem Schuljahr.
Um ein Erfolgserlebnis für die Schulkinder bei einem Ausflug, einer
Besichtigung oder Wanderfahrt zu sichern, war eine gute Vorbereitung durch
die Lehrer nicht nur für das Reiseziel, sondern auch für die Wegstrecke
erforderlich. Die Lehrer besaßen noch viele Jahre nach dem Krieg keine
Autos. Sie gingen deshalb die nahen Wegstrecken zu Fuß, weitere befuhren
sie mit dem Fahrrad und entfernte Ziele wurden mit der Eisenbahn
abgefahren.
Auf den Fahrten mit den Schulkindern wurden Autobahnen gemieden. Kurze
Rasten wurden während der Fahrt eingelegt, um typische Heidehöfe,
seltene Bäume, Moore, Pflanzen (u. a. Buchweizen, Seradella), Kanäle,
Schleusen, Hünengräber, Findlinge, Gedenksteine usw. zu besichtigen.
Am 31. Juli 1976 wurde die Schule Hahausen wegen der Bildung von zentralen
Gesamtschulen nach mehr als dreihundertjährigem Bestehen geschlossen.
Seitdem fahren die schulpflichtigen Kinder der Klassen l - 4 in die
Grundschule nach Lutter, ab 5. bis 6. Klasse in die Orientierungsstufe
nach Seesen, um dann anschließend die Hauptschule, die Realschule oder
das Gymnasium in Seesen zu besuchen.
Ob die Auflösung der Schule Hahausen für die Betroffenen einen
Fortschritt bedeutet, wird erst die Zukunft lehren.
Chronik, Seite 160
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